Der Aufschrei und die Ausdrücke des Missfallens im «Circolo» sind mehr als nur verständlich. Was um Himmels Willen hat das Movimento Cinque Stelle (M5S) unter Conte, die Forza Italia von Berlusconi und die Lega von Salvini dazu gebracht, die Regierung von Mario Draghi, der sie selber angehörten, zu stürzen? Dies, in einer Zeit, wo Italien weiss Gott bereits mit genügend Herausforderungen konfrontiert ist. In Europa herrscht Krieg, die Energie- und Nahrungsmittelpreise schiessen hoch, die Inflationsrate steht kurz davor, zweistellig zu werden, es gilt die Vorgaben des EU-Wiederaufbauplans ordnungsgemäss umzusetzen und bereit zu sein, um sich bei der kommenden Verhandlungsrunde zum Stabilitätspakt dringend benötigte, weitere EU-Unterstützung zu sichern und auch die Folgen der Pandemie sind bei Weitem noch nicht gemeistert – Draghi und seine Regierung standen in dieser schwierigen Zeit für Stabilität und Verlässlichkeit. Die integre Autorität und internationale Anerkennung des Premierministers trugen das Ihre dazu bei. Und sie kamen auch beim Volk gut an. Wie stolz waren die Italienerinnen und Italiener in letzter Zeit zu realisieren, dass ihr Land auf internationaler Ebene wieder wahrgenommen wird und eine Rolle zu spielen vermag. Das Foto, das Präsident Macron, Bundeskanzler Scholz und Premierminister Draghi im Zug nach Kiev zeigt, brachte es auf den Punkt. Nicht erstaunlich gab es in den letzten Tagen eine Unzahl von Petitionen, Versammlungen und sonstigen Initiativen von Bürgergruppierungen, Berufs- und Unternehmensverbänden, die Mario Draghi regelrecht beknieten, weiterzumachen.
Was denn veranlasste Conte, Berlusconi und Salvini die Reissleine zu ziehen, ihm die Gefolgschaft zu verweigern und das Land in Unsicherheit und Konfusion zu stürzen? Noch nie in der Geschichte der italienischen Republik seit dem zweiten Weltkrieg – die auch eine Geschichte der gescheiterten Exekutiven ist – wurde eine Regierung in den Sommermonaten zu Fall gebracht. Dies aus der bis anhin einleuchtenden Überlegung, dass dann Neuwahlen im Herbst stattfinden müssen und einer neugewählten Regierung so kaum mehr Zeit bleibt, ein Budget für das kommende Jahr aufzustellen und vom Parlament genehmigen zu lassen. Die Hasardeure Conte, Berlusconi und Salvini haben sich auch darüber hinweggesetzt und nehmen in Kauf, dass es Ende Jahr lediglich ein Rumpf- oder provisorisches Budget geben wird.
Man wird den Eindruck nicht los, dass leider wieder einmal die Verfolgung von (vermeintlichen) Eigeninteressen über das Allgemeinwohl gestellt worden ist. Die Verfolgung von Partikularinteressen gehört zur Politik. Kein Land ist davor gefeit. Aber es beschleicht einem das ungute Gefühl, dass dies in Italien rücksichtsloser und unverfrorener geschieht als anderswo. Enttäuschend diesbezüglich Giuseppe Conte. Sein politischer Stern war schon seit einiger Zeit am Sinken. Als Chef des M5S hat er nie richtig Fuss fassen können; hin- und hergerissen zwischen den verschiedenen Flügeln (etwa zwischen Putin-Verehrern und «Westlern») innerhalb des Movimento und stets im Schatten des «Garanten» der Bewegung, Beppe Grillo. Die politische Glanzzeit des «Avvocato» als Chef der Regierungen Conte I & II liegt schon lange hinter ihm. Er nimmt eine Bagatelle zum Anlass (Draghi soll sich in einer Unterhaltung mit Grillo abschätzig über ihn geäussert haben), um sich zurück ins Gespräch zu bringen. Mit seinen Forderungen und Dispositionen löst er eine Entwicklung aus, die er schlussendlich nicht mehr kontrolliert und die dann aus dem Ruder läuft.
Salvinis und sicherlich auch Berlusconis Triebfeder sind eigene Machtgelüste. Die «Centrodestra», das Rechtsbündnis aus Forza Italia, der Lega und der Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni (letztere eine Rechtsaussenpartei, die nicht Teil des Regierungsbündnisses von Mario Draghi war, die auch keinerlei Berührungsängste mit der neofaschistischen Szene zu haben scheint), soll die Gunst der Stunde nutzen, um in Neuwahlen die Macht zu erlangen. Georgia Meloni wird sich die Hände reiben. Mit ihrer Partei wird sie Berlusconi und Salvini, wie es derzeit aussieht, weit hinter sich lassen. Sie wird so die Führungsrolle innerhalb der «Centrodestra» übernehmen können. Insbesondere in der Forza Italia rumort es bereits gewaltig. Gewichtige, langjährige Gefolgsleute von Berlusconi, Mariastella Gelmini und Renato Brunetta, haben die Partei bereits verlassen. Wie sich die Lega damit abfinden wird, hinter Melonis Partei die zweite Geige zu spielen, wird sich weisen.
Die, wie es derzeit kolportiert wird, am 18. oder 25. September stattfindenden Neuwahlen werden aller Voraussicht nach nicht nur die Fratelli d’Italia, sondern auch die Draghi bis zuletzt loyal unterstützenden Linksdemokraten (Partito Democratico) stärken. Eine Regierungsbildung danach könnte schwierig werden. Die Staatsfinanzen werden sich verschlechtern, die Zinsen steigen, der Druck auf höhere Steuern wird zunehmen. Viele, denen heute das Blaue vom Himmel versprochen wird, werden auf die Welt kommen. So bleibt einzig zu hoffen, dass sich die Wählerinnen und Wähler Ende September erinnern werden, wer ihnen all dies eingebrockt hat.