Von Greve nach Manhattan ... oder Betrachtungen über den Terrassenrand hinaus

... Giovanni da Verrazzano ist nicht zu übersehen. Auf einem Sockel stehend dominiert er den Platz. Er trägt einen wehenden Mantel, darunter eine Oberkörperrüstung und auf dem Kopf einen Helm, wie er in seiner Zeit üblich war. Grimmig und – so der Eindruck – mit skeptischem Blick schaut er über den Platz Richtung Rathaus. Die freizügig-explizite Bronzeskulptur, die die Gemeinde ihm dort gegenüber postiert hat, und die er gezwungen ist, ständig anzuschauen, scheint Giovanni nicht so zu gefallen.

 

Aufgrund seiner Ausrüstung und seinem Erscheinungsbild muss Giovanni da Verrazzano sehr wahrscheinlich ein Krieger aus der Zeit des Konflikts zwischen den Guelfen und Ghibellinen gewesen sein. Vielleicht ein Feldherr im Krieg zwischen Florenz und Siena? So denkt man. Doch weit gefehlt! Mitten auf dem Platz in Greve, steht einer der bedeutendsten Seefahrer (nach Kolumbus und Amerigo Vespucci), die Italien hervorgebracht hat.

 

In Greve, in diesem durch Rebbau geprägten Ort inmitten der Chianti-Hügel fernab vom Meer, ein Denkmal für einen Seefahrer? Des Rätsels Lösung ist das unweit des Dorfes liegende Castello di Verrazzano. In dieser – auch heute noch – stattlichen Burg, dem Sitz seiner Familie, wurde Giovanni im Jahre 1485 geboren.  

 

Wie genau der junge Giovanni aus seiner ländlichen Umgebung, von der aus das Meer damals nur mit langen Ritten, resp. Mehr-Tagesmärschen erreichbar war, zur Seefahrerei kam, ist nicht überliefert. Interessant ist, dass zu dieser Zeit gleich mehrere wichtige Seefahrer aus Florenz und Umgebung kamen. So u.a. der erwähnte Amerigo Vespucci (1451 – 1512; Entdecker der Ostküste Südamerikas; sein Vornamen gab dem Doppelkontinent „Amerika“ den Namen) oder Giovanni da Empoli (1483 – 1518; ein Chinafahrer). Und dies obschon die Region über keinen namhaften Hafen verfügte. Weder in Pisa noch Livorno konnten zu dieser Zeit grössere Schiffe anlegen.

 

Historiker sehen diese Generation von florentinischen Entdeckern im Zusammenhang mit der grossen wirtschaftlichen Bedeutung, die Florenz damals hatte. Zwischen dem 13. und anfangs 16. Jahrhundert war die Stadt das eigentliche Wirtschaftszentrum der westlichen Welt. Ihre Bankiers, die Medici, Strozzi etc., versorgten Europa mit Geld. Die grossen Handelshäuser hatten sich via ihre zahlreichen Niederlassungen in europäischen Städten eine dominante Stellung erarbeitet und brachten der Stadt grosse Prosperität. Es herrschte ein Geist der Öffnung, der sich auch auf kultureller und wissenschaftlicher Ebene widerspiegelte. Die grossen „Fiorentini“ Giotto und Dante und dann besonders Leonardo da Vinci und Michelangelo fallen in diese Zeit. Dieser Nährboden brachte die florentinischen Entdecker hervor und machte aus „Landratten“ angesehene und geachtete Seeleute.

 

Keiner der grossen italienischen Seefahrer segelte allerdings je einmal  unter einer italienischen Flagge. Die grossen Zentren der Seefahrerei hatten sich zu dieser Zeit bereits vom Mittelmeer an den Atlantik verlagert. Wir wissen, dass Kolumbus 1492 die „Neue Welt“ im Dienste der spanischen Krone betrat. Amerigo Vespucci unternahm seine Entdeckungsfahrten entweder unter spanischer oder portugiesischer Flagge.

 

Giovanni da Verrazzano heuerte in Frankreich an. Er überzeugte den Franzosenkönig Franz I, ihm eine Expedition anzuvertrauen, die westwärts nach einem Weg nach China suchen würde (Nordwest-Passage). Finanziert wurde das Unternehmen durch florentinische Bankiers in Lyon und Rouen. Verrazzano stiess im März 1524 auf der Höhe des heutigen North Carolina auf die nordamerikanische Küste. Weiter segelnd entdeckte er wenig später als erster Europäer die heutige New York Bay und den Hudson River. Ihm zu Ehren wurde deswegen die 1964 fertiggestellte Verbindungsbrücke zwischen Brooklyn und Staten Island „Verrazano-Narrows Bridge“ genannt. Die Nordwest-Passage fand Verrazzano auch auf späteren Reisen nicht. Von seiner dritten Entdeckungsfahrt kehrt er schliesslich nicht mehr zurück. Er wird 1528 von Einheimischen auf der Insel Guadeloupe getötet und der Überlieferung zufolge … verspeist.

 

Was war das für eine Zeit! Geistige, kulturelle Offenheit, Entdeckungsdrang, unternehmerische Intuition und Durchsetzungskraft gepaart mit dem Willen zu Kooperationen über die Grenzen von Machteinflüssen hinweg, haben den italienischen Stadtstaaten und ganz besonders Florenz Reichtum und ein kulturelles Erbe hinterlassen, von denen sie heute noch zehren. Über tausend Jahre nach dem Niedergang des römischen Imperiums waren sie es, die der Apenninen-Halbinsel von neuem Glanz verliehen. Angesichts der mentalen Blockade, in der sich das Land seit einiger Zeit befindet, fragt man sich, wer heute solche Lebensgeister wecken könnte? Woher müsste ein Impuls kommen, damit dieses wunderbare Land in neuer Blüte erscheinen könnte? Dass die italienische Politik dazu derzeit in der Lage ist, darf bezweifelt werden. Insbesondere werden ein hasardeurhafter Populismus, Abschottung und Isolation, wie er sich am Vorabend der Regierungsbildung in Rom abzeichnet, nicht helfen. Im Gegenteil.

 

Die Osterias und Trattorias an der Piazza in Greve rund um die Verrazzano-Statue haben mittlerweile herausgestuhlt und servieren herrlich duftende Pasta und ihren Chianti dazu. Die Leute schwatzen, lachen und geniessen es. Diese Unbeschwertheit „trotz allem“ ist ansteckend und das, was das Bel Paese immer wieder so sympathisch und liebenswürdig macht … und im Übrigen hat’s vom Niedergang Roms bis zur Blütezeit der Renaissance ja auch etwas gedauert, also können wir auch jetzt ruhig noch ein bisschen warten J